Lehren & Lernen
Warum ist das nur so schwierig?
von Christine Schneider
Über die Schwierigkeit von nachhaltigen Veränderungen in der Taiji-Praxis
erschienen in: Taijiquan & Qigong Journal, Heft 66, 4/2016
Interview mit Patrick Kelly von Matthew Rochford in Devon im Juni 2011 geführt, durch weiteren Emailaustausch ergänzt, und erstmals am 13. März 2012 veröffentlicht
Wie und wann ist Deinem Verständnis nach Taiji entstanden?
Es gibt zwei Versionen der Geschichte des Taiji – eine schriftliche akademische und eine andere, die von Lehrer zu Schüler weitergegeben wird. Meinem Lehrer (Meister Huang Xiangxian) wurde die Geschichte des Taiji von seinem Lehrer erzählt, und dieser hatte sie wieder von seinem Lehrer, und so weiter. Ich vertraue dieser Art der Weitergabe mehr, da jeder Mensch dieser Kette eine lange Zeit des Trainings, 20 Jahre oder länger, mit ihren eigenen Lehrern hinter sich hatte. Ihre Lehrer gaben ihr authentisches Wissen weiter, das sie von ihren eigenen Lehrern bekommen hatten.
Die schriftlichen historischen Aufzeichnungen sind wahrscheinlich unvollständig, weil besonders in früheren Zeiten Lehrer keine Informationen nach außen gaben. Es war eine Art geheime Information, die von Lehrer zu Schüler weiter gegeben wurde. Erst in modernerer Zeit wurde Geschichtliches niedergeschrieben und unterschiedliche Berichte miteinander in Beziehung gesetzt. Wenn man sich die geschichtlichen Aufzeichnungen ansieht, die ein paar Generationen zurück liegen, gibt es einen Bruch, vor dem kaum etwas bekannt ist. Die Information, die von Lehrer zu Schüler weitergegeben wurde, war kontinuierlicher und geht zurück bis zu dem, der als wahrscheinlicher mystischer Begründer angesehen wird, nämlich Chang San-Feng, von dem man annimmt, dass er vor über 750 Jahren gelebt hatte. Auf diese Weise wurde Information weitergegeben. Mein Lehrer erhielt sie von seinem Lehrer und so weiter, so weit zurück wie wir sie jetzt kennen. Ich denke, dass das eine vertrauenswürdigere Information ist.
Was erzählten sie zum Beispiel über die Ereignisse zur Zeit von Yang Luchan (1799-1872)?
Yang Luchan lernte von einem Mitglied der Chen Familie. Es ist (gemäß der inneren Überlieferung) wahr, dass der beste Schüler jedes Meisters die Linie weiterführt – manchmal gibt es mehrere beste Schüler, nicht nur einen. Also führt der (oder einige) beste Schüler die Linie weiter. Die andere Überlieferung, dass ein Familienmitglied die Linie weiterführt entspricht eher der äußeren Überlieferung, nicht der inneren. Yang Luchan war, so weit wir wissen, der beste Schüler, wesentlich besser als die anderen seines Lehrers, und so wurde die Taiji Tradition an Yang Luchan weitergegeben.
Nach Meister Ma Yueh-Liang repräsentiert der gegenwärtige Chen Stil nicht das Taiji, das die Chen Leute zur Zeit von Yang Luchan übten. Meister Ma sagte, dass es verloren war und erst seit kurzem aus der Tradition der Chen Familie aber mit typischen Shaolin Charakteristika wiederbelebt wurde.
Erklärt das, warum der Chen Stil heute den Shaolin Stilen so ähnlich sieht?
Ja. Das Taiji des Chen Stils ist tatsächlich dem Shaolin näher als dem Taiji. Zu der Zeit als die Kommunisten China übernahmen, wurde Taiji teilweise unterdrückt. Viele der besten Taiji Praktizierenden flohen nach Hong Kong, Taiwan, Amerika und Großbritanien. Diejenigen, die in China blieben, wurden stark unterdrückt – sie wurden von der Ausübung oder dem Unterrichten abgehalten, oftmals ins Gefängnis gebracht und manchmal getötet. Später erkannten die Kommunisten, dass sie einen Fehler gemacht hatten, und sie begannen den Versuch Taiji wieder zu beleben. Da aber die Vertreter der Yang und Wu Stile fast vollständig in den Westen geflüchtet waren, versuchten sie den Chen Stil wieder aufleben zu lassen. Dieser Stil wurde von der Regierung gefördert; es war eben einer, der im Westen nicht so weitverbreitet war. Deshalb wurde der Chen Stil so populär. Ich kenne Yang und Wu Stil Leute, die aus dem einfachen Grund zum Chen Stil gewechselt sind, weil es der einzige war, den sie praktizieren durften.
Hat sich Taiji in Deiner Trainings Linie seit seinen frühen Anfängen überhaupt verändert?
Es ist absolut unbekannt, wie sehr es sich in den letzten Jahrhunderten veränderte. Was wir wissen, ist, (noch einmal: diese Information bekam ich durch persönliche Gespräche mit Meister Ma Yueh-Liang, der den Großteil des 20. Jahrhunderts in Shanghai lebte) dass vor seiner Zeit die langsame Form nicht existierte. Die langsame Taijiform des Yang Stils wurde Anfang des 20. Jahrhunderts kreiert. Yang Chengfu schuf die Yang Stil Form und Wu Jianquan gründete den Wu Stil. Davor waren die Formen im Wesentlichen verschieden.
Es scheint nicht viel Übereinstimmung zwischen verschiedenen schriftlichen Berichten über die Geschichte des Taiji zu geben.
Nein, es gibt nicht viele gute Informationen darüber. Meister Ma traf und kannte diese alten Taiji Größen – Yang Chengfu, Wu Jianquan, Yang Jianhou, Yang Banhou. Vor seinen Berichten aus erster Hand ist die Geschichte wirklich sehr vage.
Wie haben Deiner Meinung nach die chinesischen Philosophien Taiji beeinflusst, wie z.B. der Konfuzianismus, der Daoismus und der Chan Buddhismus?
Sie haben eine wichtige Rolle gespielt – sie spielen eine Rolle in der gesamten chinesischen Gesellschaft. Die Chinesen haben diese drei sehr selbstverständlich und leicht in ihr Leben integriert ohne sie als unterschiedliche Dinge zu empfinden. Normalerweise verwenden sie den Konfuzianismus für ihren Alltag, für ihre Beziehung zu ihren Eltern, ihrer Familie, der Gesellschaft. Der Buddhismus hat mehr eine religiöse Bedeutung, der Daoismus besitzt eher philosphische Bedeutung. Und so verwenden sie die Philosophie des Daoismus, die Religion des Buddhismus und den gesellschaftlichen Umgang, wie er im Konfuzianismus empfohlen wird. Dieser philosophische Pragmatismus beeinflusste natürlich auch die Lehre des Taiji. Meister Huang und Meister Ma zum Beispiel waren Mitglieder einer esoterischen Gesellschaft, die bewusst konfuzianische, daoistische und buddhistische Prinzipien vereinte. Sie führten diese Prinzipien zusammen und hatten nicht das Gefühl, dass es drei verschiedene Dinge sind, die voneinander getrennt bleiben sollten, so wie es Menschen im Westen eher sehen.
Im Westen sagen viele Leute Taiji sei am meisten vom Daoismus beeinflusst. Ist das wahr?
Ich würde sagen ja. Taiji wird eher als daoistische Kunst angesehen, während die Shaolin Künste in buddhistischen Klöstern praktiziert wurden. Taiji, Hsing I, Ba Gua und ein paar andere weniger bekannte Künste entstanden durch daoistische Lehrer. Der Lehrer von Meister Huang war bekannt als daoistischer Wander Mönch. Buddhismus hat einen späteren Einfluss in China als Daoismus. Daoismus kann über Lao Tzu 2.500 Jahre zurückverfolgt werden, so dass das meiner Meinung nach als der ursprüngliche Einfluss angesehen werden kann. Als sich Daoismus und Buddhismus trafen, entstand der Chan Buddhismus. Chan Buddhismus verbreitete sich später von China nach Japan und ließ den Zen Buddhismus entstehen.
Könntest Du bitte die grundsätzliche Bedeutung des Yin Yang Symbols (ein wahrscheinlich daoistisches Symbol) und seine besondere Relevanz für Taiji erklären?
Taiji als philosophisches Konzept existierte lange vor Taiji als Übungspraxis. Erst in den letzten zwei oder drei hundert Jahren wurde diesem Übungssystem der Name Taiji gegeben. Die allgemeine Bedeutung des Yin Yang Symbols beschreibt vereinfacht gesagt die intelligente Interaktion zwischen entgegengesetzten Kräften, und nicht das unintelligente Aufeinandertreffen und den Konflikt zwischen ihnen. Um es genauer zu sagen, es kann auf zwei Menschen angewendet werden – die intelligente Interaktion zwischen den beiden. Man kann es allgemeiner auch auf die Gesellschaft anwenden, in der großer sozialer Druck auf Gruppen ausgeübt wird, oder sogar kosmologisch auf die Interaktion von Universen. Das Symbol kann auch spezieller auf das Innere des Menschen angewendet werden, auf Kräfte, die sich normalerweise bekämpfen. Zum Beispiel auf Emotionen und Intellekt, oder die Bedürfnisse des Körpers und die Wünsche des Geistes. Es kann auch auf den Kampf zwischen äußeren Kräften des Alltags angewendet werden, die einen Menschen beeinflussen, und die inneren, die mit innerer Entwicklung, Erleuchtung oder Unsterblichkeit verbunden sind.
Um noch etwas hinzu zu fügen: Das Yin Yang Symbol kann auch im Zusammenspiel von Aufmerksamkeit und Intention als aktiven und passiven Aspekt gesehen werden. Und damit betrachtet man es genauer nicht als zwei einander entgegengesetzte Kräfte, sondern als eine permanent Passive und eine permanent Aktive, zusammen mit dem intelligenten Zusammenspiel dieser beiden Dinge. Die Intelligenz ist die neutralisierende Kraft, was nicht immer verstanden wird. Dieses intelligente Zusammenspiel zwischen Aufmerksamkeit und Intention innerhalb des Geistes wird auch im Nervensystem wiedergespiegelt, wo sensorische Neuronen mit dem sensorischen Apparat des Körpers und die motorischen Neuronen mit dem motorischen Apparat verbinden, während die Interneuronen die Information zwischen den sensorischen und den motorischen Neuronen steuern. So spiegelt sich der Geist im Nervensystem des Körpers wieder und ist damit ein sehr spezifisches Beispiel für das Yin Yang Symbol.
Das klingt so als würde dieses Prinzip auch wissenschaftlich bestätigt werden.
Ja, das Taiji Diagramm ist eine sehr genaue physikalische Beschreibung der Vorgänge im Körper.
Kannst Du bitte das Konzept hinter den Trainingsmethoden erklären, das Dein Taiji zu einer inneren Kunst macht?
Was macht eine Kunst eher zu einer inneren als zu einer äußeren? Es ist grundsätzlich dann eine innere Kunst, wenn der Geist aktiv ist und der Körper darauf reagiert – anders als wenn nur die Körperbewegung stattfindet. Umgekehrt, wenn Leute Bewegungen nur mit Aufmerksamkeit trainieren, führt der Körper die Aktivität aus, während das Bewusstsein die Körperbewegung wahrnimmt. In diesem Fall ist der Körper aktiv und der Geist passiv. Wenn auf diese Weise geübt wird, ist es eine äußere Kunst.
Dann gibt es noch die Frage von welcher Ebene diese Intention, die die Bewegung einleitet, herkommt. Wenn die Intention eine gänzlich äußere ist, kann man kaum von einer inneren Kunst sprechen. Wenn man sich zum Beispiel ein Bild im Geist vorstellt und die Bewegung daran anzupassen versucht, wäre es ein sehr oberflächlicher Gebrauch des Geistes. Die Tiefe des Geistes, welche die Intention für eine Bewegung hervorbringt, bestimmt also den Grad der inneren Kunst.
Die meisten Leute, die zum Taiji kommen, kommen deshalb, weil ihr Geist relativ ruhig wird, und sie in einen schönen entspannten friedvollen geistigen Zustand kommen. Könntest Du bitte ein wenig darüber sprechen, wie sehr das den Prozess beim Taiji fördern oder behindern kann?
In den ersten Phasen ist es wichtig zu lernen, wie man den Geist still werden lässt, die Emotionen beruhigt, und den Körper entspannt. Das ist äußeres Training: Du bewegst den Köper weich, ruhig, atmest sanft und als Ergebnis durch das Wahrnehmen dieser weichen ruhigen Bewegung, wird der Geist still, die Emotionen beruhigen sich, und der Körper entspannt sich. Dieses anfängliche Training braucht üblicherweise ein paar Jahre – das ergibt die grundlegende Voraussetzung, um mit dem inneren Training zu beginnen.
Taiji wird oft als eine sehr mühelose Kunst dargestellt, da es dem Übenden ein friedvolles Gefühl gibt. Glaubst Du, dass es ein realistisches Bild über Taiji ist?
Es gibt zwei Aspekte der Mühelosigkeit. Der äußere Aspekt betrifft das Verringern von übermäßigem Denken, überbordenden Emotionen und übertriebenen Körperaktivitäten, und dann lassen die sanften Bewegungen ein Gefühl von Mühelosigkeit entstehen – aber das ist nur ein äußerliches Gefühl von Mühelosigkeit.
Es gibt noch eine völlig andere Bedeutung: wenn man intensiv trainiert, erreicht man vielleicht nach einigen Jahrzehnten, weil die sehr tiefen Teile in einem aktiv werden, einen Zustand, in dem man auch mit schwierigen äußeren Umständen mühelos umgehen kann.
So entsteht die erste Mühelosigkeit dadurch, dass man die äußeren Umstände so leicht, still und ruhig wie möglich macht, sich weich und langsam bewegt, und man dann durch diese äußeren einfachen Bedingungen in einen friedvollen Zustand kommt. Unglücklicherweise verschwindet diese Mühelosigkeit, wenn man schwierige äußere Umstände hat.
Erst später mit großer Intelligenz von einem sehr tiefen Teil eines Menschen, wird man fähig sein, mühelos mit schwierigen äußeren Bedingungen umzugehen. Das ist ein sehr viel tiefgreifenderer Aspekt von Mühelosigkeit, der erst nach langem Training entsteht.
Deutet das dann auf eine tiefgehende Integration der Taiji Praxis hin?
Ja, es ist wirklich ein Hinweis auf die Tiefe des Trainings, wenn Menschen mit schwierigen äußeren Umständen, körperlichem, mentalem und emotionalem Stress auf eine besonders intelligente, weiche und sanfte Weise umgehen können.
Wie wichtig ist Deiner Meinung nach die Verbindung des Taiji zur Vergangenheit und welche Bedeutung hat es für das heutige Leben?
Die Verbindung zur Vergangenheit ist wichtig, nicht vom philosphischen Standpunkt aus, sondern einfach deswegen, weil jede Person, die tiefgehend trainiert, die Kunst von einer Person erhalten hat, die vor ihr tiefgehend trainiert hat.
Das Training geht weiter in der Vergangenheit zurück, als uns von der Geschichte überliefert wurde, und obwohl die Kunst von Generation zu Generation weiterentwickelt werden kann, hängt es immer noch von der höchst verfeinerten Information und dem Training ab, das von den vergangenen Generationen weitergegeben wurde. Es ist nicht etwas, das einfach nur neu ist, und das leicht innerhalb einer Generation entdeckt werden kann. Das ist die Bedeutung der Vergangenheit.
Die Kunst hat die gleiche Bedeutung für das heutige Leben wie für jede vorhergehende Generation.
Welches Gewicht hat Meister Huang auf manche philosophische Prinzipien gelegt?
Er hat großes Gewicht auf die philosophischen Prinzipien gelegt, auf die Aspekte jener drei Philosophien, die vorher erwähnt wurden – Konfuzianismus, Daoismus und Buddhismus. Er machte keinen Unterschied zwischen ihnen, und hat sie alle als wichtige Lehren für das Taiji betrachtet.
Wie vorher schon erwähnt, war er ein Mitglied einer esoterischen Gesellschaft (so wie Zheng Manqian und Yang Chengfu), wo sie die äußeren gesellschaftlichen Prinzipien des Konfuzianismus, die eher religiösen Praktiken des Buddhismus (das Rezitieren von Sutren, etc.) und die Praxis der Zirkulation und Transformation der inneren Energie, wie sie in der Daoistischen Meditation gelehrt wird, integrierten. Anfangs lernte er Taiji in Daoistischer Tradition von seinem Lehrer, der ein daoistischer Mönch war. Dieser Lehrer unterrichtete ihn in Chinesischer Medizin, in den daoistischen Kampfkünsten, in der daoistischen Philosophie und lehrte ihn das Lesen der Klassiker und der alten daoistischen Schriften und vieles mehr – es war also ein integraler Bestandteil seines Unterrichts, und er versuchte das an uns weiterzugeben.
Kannst Du bitte erklären, was die Klassischen Schriften des Taiji sind?
Die Klassischen Schriften des Taiji sind eine Ausgabe von Schriften, deren genauen Daten ich nicht nennen kann. Ich kann nicht einmal die genauen Manuskripte weitergeben, da verschieden Lehren leicht unterschiedliche Ausgaben haben. Aber es gibt ein Herzstück der Klassischen Schriften mit ca. fünf Kapiteln. Es sind dies Schriftstücke von kompetenten Taiji Lehrern der letzten 100 oder 200 Jahre, die die grundlegenden Prinzipien des Taiji beinhalten und auf die man sich normalerweise bezieht, und wenn es nicht so ist, kann man es eigentlich nicht Taiji nennen.
Du hast während Deines Lebens drei wichtige Philosophien von drei verschiedenen Lehrern studiert: Daoismus von Meister Huang, Hinduismus und Yoga von Mouniji Maharaj und Sufismus von Abdullah Dougan. Wie hast Du diese verschiedenen Herangehensweisen in Dir miteinander vereint, wenn sogar zum Beispiel zwei nur leicht von einander verschiedene Taiji Linien Verwirrung oder Probleme bescheren kann?
Ich konnte mit diesen drei Lehren, die Hinduistische Yoga Lehre, die Daoistische Lehre und die Sufi Lehre genauso zurechtkommen, wie mein Lehrer mit dem Konfuzianismus, dem Buddhismus und dem Daoismus. Im Besonderen suchte ich nach dem Gemeinsamen dieser drei Lehren, und ich erkannte, dass das Gemeinsame auch das war, was wichtig war. Und umgekehrt, das was spezifisch nur auf eine dieser Traditionen zutraf, war eine Schicht, die ihren Ursprung in der Gesellschaft hatte, in der diese Tradition entstanden war.
Diese drei sehr erfahrenen Lehrer (die selber von verschiedenen erfahrenen Lehrern gelernt hatten) halfen mir zu unterscheiden, was die wirklich wichtigen Hauptelemente ihrer Traditionen waren und was nur eine Schichte darstellte, die durch Geschichte und Gesellschaft an die Spitze gestellt wurde.
Also hinter das kulturelle Erscheinungsbild dieser Dinge schauen?
Ja, das war der Weg. Ich schaute hinter das kulturelle Erscheinungsbild, weil alles mit der Zeit durch Kulturelles überdeckt wird.
Hast Du auch nach etwas gesucht, das für Dich persönlich relevant war?
Nicht wirklich, ich habe nichts gesucht, das für mich persönlich wichtig war. Ich versuchte vielmehr die wahre Essenz der Lehren zu entdecken. Für jeden dieser Lehrer, von denen ich gelernt hatte, war es so, dass es tief in ihnen überhaupt keinen Unterschied gab. Sie hatten genau das gleiche Verständnis. Jeder von ihnen hat bis zum Zeitpunkt seines Todes nur mehr sehr wenig von den kulturellen Aspekten in seinen Lehren gehabt. Natürlich gab es früher in ihrem Leben wesentlich mehr Bezug zu ihrer jeweiligen Kultur. Als ich zum Beispiel Meister Huang kennenlernte, war er sehr von der chinesischen Kultur beeinflusst. 20 Jahre später hat sein Unterricht viel davon verloren. Und bei den anderen Lehrern war es das gleiche. Abgesehen von diesen Veränderungen war ihre Lehre tief im Inneren die gleiche.
Wurden sie deshalb innerhalb ihrer Kultur als eher unorthodox betrachtet?
Jeder von ihnen wurde, als sie sich schrittweise weiterentwickelten, als eher unorthodox angesehen.
Welches spirituelle Ziel ist Deiner Meinung nach im Zusammenhang mit Taiji erreichbar?
Im Buddhismus sprechen sie von Erleuchtung, im Daoismus von Unsterblichkeit, im Sufismus von Auflösung. In der hinduistischen Yoga Tradition sprechen sie von Verwirklichung. Das Selbst verwirklichen, das nicht reale Selbst des Sufismus zerstören, in der daoistischen Tradition Unsterblichkeit erlangen, in der Buddhistischen Tradition erleuchtet zu werden – das sind alles nur Wege, von außen auf das gleiche zu schauen, das im Inneren als Ergebnis von echtem Training stattfinden kann.
Wenn diese Transformation stattfindet (ob man es so sieht, dass ein Mensch mit Licht erfüllt wird, oder die unsterbliche Leere entsteht, oder das Ego zerstört wird, damit das Selbst verwirklicht wird), dann kann der Mensch innerhalb dieses sehr tiefen echten Teil von sich selber leben – und er ist nicht länger abhängig vom Körper, und eine Art Unsterblichkeit wird erreicht.
Es sollte deutlich gemacht werden, dass dieser Prozess eine unaufhörliche Reise ohne vorhersehbares Ende ist, aber es gibt Etappen auf dieser Reise, und eine davon kann angemessenerweise mit dem modernen Begriff „Erleuchtung“ bezeichnet werden, was einer Art Unsterblichkeit entsprechen kann oder auch Selbst-Verwirklichung genannt wird. Diese Phase ist die Stabilisierung des klaren Kontakts mit dem wahren Teil eines Menschen, dem Wahren Selbst. Entwickelte Lehrer betrachten diese Phase als bedeutende Etappe der Reise.
Es scheint heutzutage die Gefahr zu bestehen, dass verschiedene spirituelle Traditionen als Gebrauchsartikel angeboten werden, und es gibt eine New Age Industrie, eine spirituelle Industrie, die es schwer macht, zu erkennen, was wirklich hilfreich ist und was nur oberflächlicher Unterricht ist. Kannst Du bitte einen Rat geben, wie Menschen diesbezüglich klar zwischen dem falschen und dem echten unterscheiden können?
Das Problem entsteht unausweichlich für jeden, da man von einem relativ oberflächlichen Platz aus anfängt. Der oberflächliche Teil, das Denken des Gehirns, liest, hört oder sieht ein wenig tiefergehenderen Unterricht und das Wissen des Bewusstseins des Gehirns (das nur durch die äußeren Sinne aufnehmen kann) wird durch den oberflächlichen Teil des Menschen in mentale Konzepte übersetzt, und er glaubt, dass er diese tiefgehenden Lehren verstanden hat, und beginnt sie dann vielleicht zu unterrichten, verkauft sie an andere weiter und so fanden unausweichlich in jeder Generation Rückschritte statt.
Mir wurde im Zusammenhang mit meinem Unterricht von einem buddhistischen Lehrer eine Geschichte erzählt, dass einer von Buddhas Schülern nach 20 Jahren Unterricht zu Buddha kam und zu ihm sagte: „ich mache deine Meditationen, deine religiösen Praktiken, deine körperlichen Übungen nun seit 20 Jahren und ich scheine keine Fortschritte zu machen“. Der Buddha antwortete: „obwohl du äußerlich alles genauso gemacht hast, wie ich es dir gesagt habe, hast du alles mit deinem Alltags–Geist gemacht. Du hast alles, was ich gesagt habe, in deine Konzepte des Alltags übersetzt. Du hast die Mantren mit deinem Alltags-Geist wiederholt, du hast die Meditation mit deinem Alltags-Geist gemacht, aber der Alltags-Geist kann nicht zum Buddha-Geist führen.“
Genau das gleiche Problem, das es schon vor zweieinhalb tausend Jahren gab, besteht nach wie vor. Menschen lesen, hören und sehen grundlegende subtile Lehren und bilden sich sofort ein, dass sie sie verstehen. Der einzige Weg diese falsche Fährte zu verhindern, ist jemanden zu finden, der etwas Wirkliches aus der Praxis gemacht hat und der in dessen Tiefe führen kann.
Wie kann nun diese offensichtlich sanfte Taiji Kunst als effektive Kampfkunst benützt werden?
Es heißt, dass beim Taiji das Schwache das Starke besiegt und das Langsame das Schnelle. Die Art auf die man Taiji benützen kann, um das Schnelle und Starke zu bezwingen, ist nicht indem man sich dem Schnellen und Starken entgegensetzt. Man darf der Stärke keinen Widerstand leisten, sondern muss mit der Stärke einer Person verschmelzen und ein Teil von ihr werden. Man muss sich mit ihr bewegen und kann dann einen Einfluss auf sie haben. In dem Moment, in dem man sie zu blockieren versucht oder sie in eine andere Richtung zwingen möchte, wird man mit dieser Kraft zusammenstoßen.
Besonders dann, wenn eine Kraft auf einen zukommt, muss man sich in die gleiche Richtung wie die Kraft bewegen, und dann kann man sanft einen Einfluss auf sie ausüben. Genauso als würde man einen Ochsen an der Nase führen, und nicht indem man der Kraft des Ochsen Widerstand leistet oder ihn versucht zur Seite zu drängen. Untrainierte Leute begegnen einer Kraft üblicherweise frontal, während Leute, die in den härteren Kampfkünsten trainiert sind, üben, die Kraft um 90 Grad abzuwehren, aber beide sind auf ihre Stärke als Verteidiger angewiesen. Wie auch immer, auch die kleinste Person kann den Ochsen an der Nase führen, wenn er sich erst einmal in Bewegung gesetzt hat. Das also bedeutet die Redensart, die beim Taiji so geläufig ist, „den Ochsen an der Nase führen“, und das ist der Schlüssel mit der Kraft des Gegners umzugehen. Indem man sich mit der Bewegung des Partners verbindet, kann ein intelligenter Einfluss auf seine Kraft entstehen.
Das was im Satz „der Langsame besiegt den Schnellen“ ausgedrückt wird, wird durch das richtige Timing angewendet. Es wird nicht einfach dadurch erreicht, indem man durch eine langsame Bewegung jemanden besiegt, der sich schnell bewegt, sondern indem man bewusst auf einem viel tieferen Level agiert. Diese Tiefe erlaubt einem den Prozess in seinen frühen Phasen wahrzunehmen und zu verstehen. Noch bevor sich der Vorgang voll entwickelt hat, kann man die ersten Anzeichen erkennen. Das bringt einen zeitlichen Vorsprung gegenüber dem Gegner mit sich, denn ohne große Geschwindigkeit ist man auf ein Ereignis vorbereitet, bevor es seine größte Stärke erreicht. Also ist es in Wirklichkeit das Timing, das Geschwindigkeit besiegt, und Sensitivität oder die Verbindung zum Partner, die dessen Kraft überwinden kann. Indem eine kleinere schwächere Person sensitive Intelligenz benützt, die durch wahres Taiji entwickelt wird, wird es für sie möglich mit der Kraft einer größeren, stärkeren und schnelleren Person umzugehen.
Auch wenn man dieses Prinzip theoretisch versteht, wie lange braucht es ungefähr dies in die Praxis umzusetzen?
Es braucht Zeit schrittweise die Fähigkeit zu erlernen mit Stärke und Schnelligkeit des Partners umzugehen. Zuerst gelingt das nur sehr eingeschränkt, und schrittweise entwickelt sich dieses Können über Jahrzehnte. Aber auch nach einem, zwei oder drei Jahren kann die Person schon ein wenig mit harter Stärke umgehen, indem sie sich damit verbindet und mit ihr bewegt, anstatt dagegen anzugehen oder sie in eine andere Richtung zwingen zu wollen. Natürlich sollte sich das Können nach Jahrzehnten in Richtung Perfektion verändern.
Welchen Rat kannst Du jemanden geben, der mit Taiji anfangen möchte?
Wenn man mit Taiji anfangen möchte, gibt es zwei wichtige Dinge, die zu tun sind. Das eine ist das Lernen, das andere einen guten Lehrer und einen guten Unterricht zu finden.
Beim Lernprozess gilt es beim äußeren Training anzufangen und sich langsam nach innen vorzuarbeiten. Man beginnt mit dem was man hat. Man hat die Bewegungen des eigenen Körpers, die eigenen Gedanken und die eigenen Gefühle. Man muss mit der Verfeinerung dieser drei Aspekte beginnen. Üblicherweise beginnt man mit der Beseitigung der Spannungen im Körper also mit der Entspannung. Normalerweise ist also der erste Schritt beim Taiji Training den Körper entspannen zu lernen. Das Entfernen übermäßiger Spannung des Körpers kann bei ausreichendem Üben ein, zwei oder drei Jahre dauern. Durch diesen Prozess wird auch die damit verbundene emotionale Spannung und Überaktivität des Gehirns beeinflusst und verringert werden. Das ist es was Anfänger am Beginn versuchen sollten.
Um jemanden zu finden, der das unterrichten kann, braucht es für diese Suche die eigene Intelligenz, die eigene Lebenserfahrung. Manche Lehrer wissen mehr, manche weniger, manche passen besser für einen bestimmten Schüler, manche weniger. Idealerweise sucht man sich jemanden aus, der für einen längeren Zeitraum bei seinem Lehrer trainiert hat, und der wiederum selber eine beträchtliche Zeit bei seinem Lehrer gelernt hat, etc. So dass auf diese Weise die sehr subtilen Elemente der Lehre von Generation zu Generation weitergegeben wurden und nun für Dich verfügbar sind, wenn Du sie lernst.
NACHTRAG
Ich würde gern mehr über die Geschichte des Taiji fragen. Je mehr ich über die Mitte des 19. Jahrhunderts herauszufinden versuche, umso weniger Sicherheit scheint es darüber zu geben. Nach der mündlichen Überlieferung, die Du über die Geschichte des Taiji erhalten hast, ist es wahr, dass Zheng Manqian Unterricht von Yang Chengfu bekommen hat, oder lernte er von einem seiner Schüler?
Zheng Manqian lernte direkt von Yang Chengfu, aber natürlich auch von seinen älteren Schülern. Das ist in allen Schulen so. Er lernte vor allem die Meditation von Zhang Qinlin, einen der ältesten Schüler von Yang Chengfu (der ein echter Schüler seines Vaters Yang Jianhou war).
Was ist über Yang Luchan bekannt und was lernte er von Chen Changxing? Hatte er andere Lehrer?
Ich habe keine guten Informationen über Yang Luchan und seine Lehrer.
Woher hatte die Chen Familie ihre Kunst?
Die meisten alten Lehrer sagen, dass der moderne Chen Stil hauptsächlich Shaolin Chen Stil (engl.:„ Chen village Shaolin“) ist und kaum mehr in Verbindung mit dem Taiji des Chen Stil der Vergangenheit ist, der innerhalb des Dorfes, in dem die Familie Chen ansässig war, gepflegt wurde.
Was war die Bedeutung von Wang Tsung Yueh?
Es gibt nur Spekulationen darüber, wer er war.
Meister Huang wurde von einem daoistischen Weisen unterrichtet. Bekam er seine Informationen hauptsächlich von ihm?
Ja, Meister Huangs White Crane Lehrer war ein daoistischer Mönch. Er lehrte ihn White Crane, Chinesische Medizin und Meditation.
Kannst Du bitte mehr über die spirituellen Anliegen einiger dieser Lehrer erzählen?
Zheng Manqian war in einer daoistischen „heiligen Gemeinschaft“, so wie vermutlich auch Yang Chengfu. Meister Huang war ebenfalls ein Mitglied. Meister Ma Yueh-Liang war, glaube ich, in der gleichen (er sprach mit mir darüber). Sie existiert immer noch in Taiwan und Singapur. Sie unterrichten die inneren Energie-Übungen des Daoismus, die mentalen Einstellungen des Buddhismus und die sozialen Regeln des Konfuzianismus. Ich besuchte die Organisation in Singapur vor ein oder zwei Jahren. Sie haben drei Tempel: einer ist dem Daoismus geweiht, einer dem Buddhismus, einer dem Konfuzianismus. Üblicherweise wurde diese Information sehr geheim gehalten. Den meisten Schülern (von Yang, Cheng, Ma oder Huang) wurde nichts darüber erzählt. Es ist eine Information nur für „Schüler des inneren Kreises“ („inside the door students“).
Erzählte einer von diesen Lehrern etwas über Chan San-Feng?
Beide, Meister Ma und Meister Huang betonten, dass Taiji auf Chan San-Feng zurückgeht. Aber wer Teil der Kette der Weitergabe seit jener Zeit bis heute war, ist verloren gegangen.
Du hast mir freundlicherweise eine Kopie von Meister Huangs Original-Karte des Stammbaums geschickt. Kannst Du mir bitte mehr darüber erzählen?
Es ist etwas, das bisher nie veröffentlicht wurde – eine geheime Karte der Linien mit Meister Huangs inneren Schülern auf der Grundlinie. Die nächste Linie darüber zeigt alle inneren Schüler von Zheng Manqian. Die nächsthöhere ist die von Yang Chengfus inneren Schülern, etc. Die Karte der Linien offenbart die genaue Kette über 6 oder 7 Generationen zurück. Ich war der einzige, dem erlaubt wurde ein Foto darüber zu machen und das Original verschwand als Meister Huang starb. Unglücklicherweise ist die Auflösung nicht gut genug, um sie zu entziffern, obwohl es vielleicht einfach nur reicht zu wissen, dass so etwas existiert. Ich habe es bis jetzt privat gehalten.
Warum gab es so viel Geheimnis um diese Karte?
Das Geheimnis bestand deshalb, weil vielleicht unaufrichtige Personen versuchen könnten sie für ihre eigenen politischen Zwecke zu benützen. Auch die Geheimpolizei Chinas hätte sie verwenden können, um Menschen und ihre Verwandten zu verfolgen.
Einige der Namen scheinen ausgestrichen worden zu sein, warum das?
Sie sind vielleicht bei ihrem Tod ausgestrichen worden. Ich bin mir nicht sicher, ob eine Person ausgeschlossen werden kann. Meister Huang bemerkte einmal zu diesem Thema, dass obwohl Leute nicht ausgeschlossen werden können, gehörten doch einige in seinem Geist nicht mehr zu seiner inneren Schule.
DANK
Wir bedanken uns sehr herzlich bei Patrick Kelly für seine Zeit und Hilfe für dieses Interview, das während seines Aufenthalts in Devon im Juni 2011 und in nachfolgenden Emails und während des Prozesses der Veröffentlichung entstanden ist.
Danke auch an Jo McGain für das Transkribieren der Originalaufnahmen.
C Matthew Rochford 2012
© TAI CHI NATION 2011
Auch die Übersetzer bedanken sich sehr herzlich bei Patrick Kelly und Matthew Rochford für die Erlaubnis, das englische Original-Interview ins Deutsche übersetzen zu dürfen und hoffen dadurch zum leichteren Verständnis beizutragen.
Patrick Kelly on Repetition (Englischer Text)
von Patrick Kelly: Infinite Dao, Eigenverlag 2007, S 125f
Intelligent repetition turns knowledge into understanding. It takes theory into practice. Seeking to do the minimum, people do not wish to know that repetition is a necessary part of learning. When the superficial-mind sees something once, it feels it understands and looks for something new. There must be a higher intelligence than this operating, based either on experience or trust in the teacher's experience, that will keep the person repeating – 10, 20, 100 or more times – what the superficial-mind is already convinced it knows.
Repeating a movement generates a pattern within some parts of the brain and over a period of time the structures of the body – muscles, bones, blood supply, nerve sensitivity and control – adjust to make this pattern stronger and more efficient. Complex patterns of movement can be stored to be used by the motor cortex later when required. The cerebellum checks that they are being performed correctly and makes changes during the complex movement. Some parts of such patterns are too fast for sensory feedback to occur until after the movement is completed. In this case intricate correction of the pattern takes place sometime afterwards, when the corrected movement is then stored for future use. So while a movement may not be working well at the time of many repetitions, after one night's sleep or even a week or longer, miraculously the movement seems to work.
Practise a movement or response once and there will be a certain depth of self-perception that accompanies the action. Repeat it ten times and this perception will be significantly deeper, with small things that had not been obvious after only one repetition, beginning to stand out. After twenty repetitions – using subtle body-awareness – there will be so many unanswered questions that to go on without finding their answers becomes pointless. Repetition is the way a refined naturalness is slowly cultivated into the body's movements, in spite of, not because of, the weakness of the 'all knowing' superficial-mind.
Patrick Kelly über die Taiji Praxis
von Patrick Kelly: Relax, Deep Mind, Eigenverlag, Kapitel 4, S 19
Interview mit Patrick A Kelly, Herbst 2001
Was hast du durch die Jahre deiner Taiji-Arbeit erreicht?
Das Hauptergebnis des Trainings unter der Anleitung eines echten Lehrers ist innere Entwicklung. Anstrengungen und Entbehrungen sind der Preis. Als ich mit Anfang 20 und 10 Jahren Training in westlichen Kampfkünsten sowie etwas Yoga- und Meditationskenntnissen dabei war, mein Hochschulstudium zu beenden, entschloss ich mich, mein Leben auf die Suche nach innerem Sinn und innerer Entwicklung zu konzentrieren. Boxen und Ringen hatten keinen Tiefgang, Yoga hatte Tiefgang, war mir aber zu passiv, während mir Meditation ohne ergänzendes Training zu unausgewogen schien. Ich versuchte es mit den japanischen Systemen, aber aufgrund ihrer kulturbedingten Strenge wendete ich mich den chinesischen Künsten zu und begann mit Taiji. Taiji - zumindest die Lehre von Meister Huang Sheng Shuan (Huang Xingxian) - erfüllte alle meine Erwartungen hinsichtlich einer ausgewogenen inneren Entwicklung.
Welcher Aspekt von Taiji interessiert dich heute am meisten?
Nur der Geist (mind) und das, was jenseits des Geistes liegt, interessiert mich wirklich. Das Gebiet meiner Wahl, auf dem ich Menschen helfe, ist sie zu lehren, wie man den Körper unter die Kontrolle des Geistes bringt. Dem Vorgang, bei dem der Geist tiefer zu seiner Quelle vordringt, gilt mein persönliches Interesse. Gesundheit und Selbstverteidigung sind sehr untergeordnete Interessen.
Hat sich dein Bild von Taiji in den letzten 30 Jahren sehr verändert?
Nicht wirklich. Ich begann Taiji ohne es jemals gesehen zu haben. Ich wusste nur, dass es sich um eine der chinesischen Kampfkünste handelt, die auf daoistischen Prinzipien basieren und die innere Entwicklung zum Ziel haben. Nachdem ich einen von Meister Huangs Instruktoren getroffen hatte, der eindeutig Kenntnisse und Fähigkeiten jenseits dessen demonstrierte, was ich in den vorangegangenen 10 Jahren meiner Nachforschungen gesehen hatte, und nachdem ich Meister Huang selbst getroffen hatte, wusste ich, dass ich gefunden hatte, was ich suchte.
Was ist deine persönliche Unterrichtsphilosophie?
Es ist wichtig, die Schüler zu ermutigen, sich so anzustrengen, dass sie sowohl ihre äußeren Grenzen ausweiten als auch tiefer in sich selbst hineingehen. Es ist wichtig sicherzustellen, dass die Schüler verstehen, warum sie bestimmte Dinge üben und wohin diese Übungen sie führen werden. Sobald sie den Weg vor sich sehen und den Sinn erkennen, diesen Weg zu gehen, können sie allmählich unabhängiger von mir werden. Dieses Verständnis schützt sie außerdem in Zukunft davor, von skrupellosen Lehrern in die Irre geleitet zu werden. Ferner ist es wichtig, die Verpflichtung zu verstehen, die im Unterrichten liegen. Das Üben dient der eigenen Entwicklung während das Unterrichten zur Unterstützung anderer erfolgt. Wenn man übt, um Lehrer zu werden, oder unterrichtet, um Prestige oder Geld zu erhalten, wird es weder der eigenen inneren Entwicklung dienen noch dient es der inneren Entwicklung anderer.
Was sind deine zukünftigen Pläne hinsichtlich deines Unterrichts in Europa?
Von der großen Anzahl, die anfangs in meine Workshops kamen, wählte ich und konzentrierte ich mich auf hundert Schüler, die am meisten bereit waren, das zu üben, was unterrichtet wurde. Ich beabsichtige, sie anzuleiten bis sie auf eigenen Füßen stehen können. Wenn diese hundert die Vorgänge und Verfahren wirklich gut verstehen, wenn sie im Stande sind, es in ihren Körpern zu finden und dann an ihre Schüler weiterzugeben, dann steht es uns frei, uns auf die tieferen Aspekte zu konzentrieren. Meine Erfahrung und die meines Lehrers besagen, dass es ungefähr vierzehn oder fünfzehn Jahre stetigen Trainings bedarf, bevor ein Schüler in der Lage ist, unabhängig zu unterrichten. Ich lernte zwanzig Jahre unter Meister Huang bis zu seinem Tod in 1992 und das ist die Grundlage für die von mir angebotene Hilfe.
Was sind die tieferen Aspekte?
Die tieferen Aspekte liegen im Geist und jenseits des Geistes. Es gibt drei klare Ebenen im Taiji: den Körper, den Geist und das was jenseits des Geistes (spirit) ist. Ich bemühe mich, die Menschen auf der Körper-Ebene gründlich zu unterweisen, führe sie weiter in Bereiche des Geistes, während ich stetig die spirituellen Gesichtspunkte einbringe.
Welche Dinge sind am wichtigsten für das Training auf den verschiedenen Ebenen?
Das Ziel besteht darin die Ebenen zu vereinen statt ausschließlich nur auf einer zu arbeiten. Man sollte zuerst lernen, sich geschmeidig in seinem Körper zu bewegen, dann loszulassen, sich innerlich auszurichten und damit die Verbundenheit zu gestalten, um dann die Kräfte im Körper zu finden - all dies in Verbindung mit dem Geist. Dies alles sind die Aspekte der Geist-Körper-Koordination (mind-body co-ordination). Reines Körpertraining gibt es praktisch nicht im Taiji. Dann gibt es das Training für die Geist-Energie-Koordination (mind-energy co-ordination) und später für die tiefsten Bereiche des Geistes (deep mind). Gleichzeitig ermöglicht das Training, die Verbindung zwischen dem deep mind und dem spirit zu stärken.
Was unterrichtest du in Bezug auf den Geist?
Zwar ist es möglich, etwas dazu zu sagen, aber echtes Verständnis entsteht nur durch eigenes Training. Es gibt Wahrnehmung (Aufmerksamkeit) und Intention auf vielen Ebenen von sehr oberflächlich bis sehr tief verborgen. Wahrnehmung und Intention verbinden sich und bewirken im Zusammenspiel Reaktionen. Üblicherweise wird im Taiji in einem gewissen Umfang die Wahrnehmungsfähigkeit trainiert, aber die Intention wird selten trainiert. Aktion mit Wahrnehmung beinhaltet das Prinzip "Körper aktiv - Geist passiv" während Aktion mit Intention das Prinzip "Körper passiv - Geist aktiv" beinhaltet. Das besondere Training der Intention des Geistes (Yi) wurde von den alten Meistern ganz bewusst geheim gehalten. Meister Huang und Meister Ma zum Beispiel behielten es nur den "inneren" Schülern vor und übertrugen dieses Wissen damit nur an einige wenige ihrer tausenden Schüler. Deshalb ist die Methode der Intentionsentwicklung gewöhnlich nicht Bestandteil des Trainings - weder in China noch im Westen - und das, obwohl die klassischen Schriften sie für das wichtigste halten. Aber selbst wenn sie unterrichtet wird, muss ein Schüler eine lange Zeit üben, bevor er sie für sich finden und vertiefen kann.
Kannst du uns etwas über deine wichtigsten Lehrer erzählen?
Am Anfang des Weges wurde es offensichtlich, dass ich einen Lehrer finden musste, der in spirituellen Dingen wirklich wusste, was er tat. Ich begann Meister Huangs Taiji und kurz darauf bei einem Sufilehrer zu lernen. Er war ein Lehrer aus der Naqshbandi-Tradition von Afghanistan, der auch zum Teil auf die Gurdjieff-Tradition zurückgriff. Ich lernte weiter von diesen zwei Menschen bis zu ihrem Tod (Meister Huang in 1992; der Sufi-Lehrer in 1987). Weitere Lehrer mit einem gewissen Einfluss sind ein alter Yogi in einer Wüste in Indien, den ich von Zeit zu Zeit besuche, und ein alter daoistischer Weiser, der verborgen in China lebt und im Westen nicht bekannt ist. Ebenso half mir Meister Ma Yueliang, der 6 Monate in Neuseeland verbrachte und den ich später in China besuchte. Schließlich stehe ich seit 15 Jahren in engem Kontakt mit Meister Ni Hua Ching, der Yang Shou Hou und Yang Cheng Fu kannte und mit Zheng Manqing eng befreundet war. Alle diese Lehrer drängten mich zu unterrichten. Ohne ihre Ermächtigung würde ich mir nicht anmaßen, andere in ihrem Leben anzuleiten.
Wenn wir wieder auf das Taiji-Training zurückkommen - was ist der Zweck des Pushing-Hands?
Pushing-Hands trainiert das Feingefühl (Sensitivität), die Form trainiert die innere Stärke. Dies ist ihr ursprünglicher Zweck, der aber von dürftig geschulten Adepten umgekehrt wird: Sie üben die Form leichthin mit Wahrnehmung aber ohne Intention auf der Suche nach Feingefühl, und versuchen dann beim Pushing-Hands innere Stärke zu finden, indem sie rohe Kraft in Verbindung mit einfacher Mechanik anwenden. Pushing Hands lehrt einen, seine Wahrnehmung so zu erweitern und auszudehnen, dass sie andere Personen einschließt. Es erlaubt einem, die Wahrnehmung, der und die richtige Antwort auf die Intention des Partners zu üben, wohingegen in der Form die eigene Intention die Bewegung erzeugt als Antwort auf die gespeicherte Körpererinnerung der Bewegungsabfolge. Mit der Zeit und der richtigen Übungsweise wird man so feinfühlig, dass man die Bewegungsabsicht im Körper, Energiefeld und Geist des Partners spüren kann. Außerdem ist Pushing-Hands eine Lehrmethode, bei der die Schüler direkt mit dem Lehrer interagieren und aus diesem Kontakt lernen können.
Hast du an Pushing-Hands-Wettkämpfen teilgenommen?
Was hältst du von Wettbewerben?
Ich habe niemals an einem Pushing-Hands-Wettkampf teilgenommen, aber wenn man in der chinesischen Welt mit jemandem pusht und berücksichtigt, dass die meisten Schüler und Lehrer in Asien im besten Fall in den "äußeren Schulen" der guten Meister gelernt haben, wird es häufig sehr wettbewerbsorientiert. In Asien gingen wir oft am Wochenende in die Parks, in denen sich Taiji-Leute von vielen verschiedenen Schulen trafen. Obwohl es unsere Absicht war, zu lernen, war diese Situation extrem wettbewerbsorientiert und als ich in China verschiedene Lehrer besuchte, wurde dies oft fälschlicherweise als eine Herausforderung missverstanden, so dass ein ernstzunehmendes Pushing-Hands kaum zu vermeiden war. Ich habe Wettkämpfe beobachtet und sie scheinen die schlechtesten Aspekte im Taiji hervorzubringen und anzuregen. Das Vergleichsdenken und die verzweifelten Versuche zu gewinnen widersprechen den grundlegenden Prinzipien. Ich glaube nicht, dass man viel Wertvolles daraus lernen kann. Einige meinen, dass sie mit einer aggressiven Energie oder einer aggressiven Situation umzugehen lernen, aber ich beobachte, dass diese Leute selbst nur immer kämpferischer werden. Die aggressive Situation regt Aggressivität an und so erhalten die Leute genau das Gegenteil von dem, was sie sich vorstellen. Aggressiv veranlagte Menschen fühlen sich in ihrem Verhalten bestätigt, steigen auf in den Rängen der Organisationen, die diese Wettkämpfe veranstalten, und führen so diese Verhaltensmuster ewig fort.
Kann freies Pushing-Hands die festen Pushing-Hands-Bewegungsformen ersetzen?
Es ist wesentlich vorteilhafter, feste Bewegungsfolgen beim Pushing-Hands zu üben und seinem Körper und Geist die richtigen Reaktionen unter kontrollierten Bedingungen beizubringen. Wenn man hingegen das freie Pushing-Hands übt, dann benutzt man nur die vorhandenen Fähigkeiten, während man gleichzeitig versucht schneller und stärker zu werden. Konsequenterweise werden so die ineffizienten, gewohnten Reaktionen noch stärker in einem verfestigt. Wenn sich allerdings die Reaktionen einer Person so weit entwickelt haben, dass sie mit den Prinzipien des Taiji übereinstimmen, kann sanftes, kontrolliertes freies Pushing-Hands benutzt werden, um die Natürlichkeit dieser Reaktionen zu verbessern.
Bitte erläutere die Bedeutung des vertikalen Kreises im Gegensatz zum horizontalen Kreis.
Der horizontale Kreis enthält die äußeren Bewegungen des Körpers, die die Positionierung des Zentrums einschließen. Im Rahmen des vertikalen Kreises finden die inneren Veränderungen im Körper und im Geist statt, die feine Änderungen der Körpergröße und vertikale Kräfte im Körper erzeugen, während der Körper seine äußeren Bewegungen vollzieht. Die inneren Veränderungen in ihrer einfachsten Form sind Anspannung (Kontraktion) zur Auslösung von Bewegung gefolgt von Entspannung (Relaxation), welche dem Körper erlaubt, sich unter dem Einfluss von Schwung und Schwerkraft zu ,schwingen' bzw. sich weiterzubewegen. Da der Körper gegen den Boden arbeitet um sich zu bewegen, erzeugt Anspannung sowohl eine horizontale als auch eine vertikale Kraft. Für schnellere Bewegungen benötigt man eine größere horizontale Kraft, was eine stärkere vertikale Kraft erfordert, was wiederum ein geringes Steigen des Körpers erzeugt. Solange man sich langsam in der Taiji Form bewegt, unterdrückt die Schwerkraft das Steigen, so dass man es häufig nicht wahrnimmt. Wenn man sich schnell bewegen will, überwindet die vertikale Kraft die Schwerkraft und der Körper wird geringfügig angehoben, um sich anschließend, sobald die Welle der Kontraktion verschwindet, wieder zu senken. Viele Menschen haben dies für sich erkannt und Cheng Man Ching erwähnt es in einem seiner Bücher, aber diese zweite Phase der Entspannung bzw. des Schwungs besteht aus drei verborgenen Phasen, die selten verstanden werden.
Bitte erläutere die verschiedenen Zustände der Muskeln und wie diese die Kräfte im Körper beeinflussen.
Die Muskeln gehen durch einen Zyklus aus Anspannung (contraction), Loslassen (release), Dehnung (stretch) und Ent-Dehnung (un-stretch), während der Geist seinen entsprechenden Zyklus von Konzentration, Entspannung, Vertiefung und Leere besitzt. Zusammen mit jeweils einem neutralen Zustand für beide ergibt dies 5 Phasen. Praktisches Verständnis davon entsteht nur durch langes Studium. Dieser Zyklus von Geist und Körper ist die Grundlage all dessen, was mich Meister Huang in den 20 Jahren meines Trainings unter seiner Anleitung gelehrt hat. Wenn man die fünf Phasen nicht versteht, dann ist es schwierig, die entspannte elastische Kraft des Taiji zu finden. Normalerweise wird gelehrt, dass es nur die zwei Muskelzustände Anspannung (Kontraktion) und Entspannung (Relaxation) gibt. Wenn man nur diese zwei kennt, wird man zwischen diesem Paar der Gegensätze - Yin und Yang - stecken bleiben. Wenn man nur diese zwei berücksichtigt oder zu kombinieren versucht, wie zum Beispiel erst anspannen, dann entspannen oder teils angespannt, teils entspannt, dann ist die Suche nach der entspannten elastischen Kraft zum Scheitern verurteilt. Dehnung (stretch) und Ent-Dehnung (un-stretch) werden selten besprochen und verstanden. Die korrespondierenden geistigen Zustände sind sogar noch schwerer zu verstehen.
Könntest du etwas zum Training der verschiedenen Zustände des Geistes in der Form sagen?
Nein, das kann ich nicht wirklich erklären. Sie müssen zusammen mit jemandem trainiert werden, der sie versteht. Ich kann sagen, dass die Leute erst einmal sehr genau auf die Vorgänge in ihrem Körper achten müssen. Gemeint ist nicht die normale Wahrnehmung, die vom oberflächlichen Geist (superficial mind) kommt. Vielmehr sollte man nach echten Körperempfindungen wie Wärme, Druck und unsichtbaren Körperpositionierungen suchen. Dies ist der erste Schritt und es ist beträchtlich anders als die Art der Wahrnehmung, die der durchschnittliche Taiji-Schüler trainiert. Lediglich die Konzentration auf der Ebene der normalen täglichen Wahrnehmung zu erhöhen, ist eine falsche Methode, die es einem später nur erschwert, tiefer zu gehen. Unglücklicherweise lehren viele moderne Meditationssysteme, genau diese oberflächliche Wahrnehmung zu schätzen und zu stärken. Das Ego beobachtet die oberflächlichen Sinneseindrücke (Sehen, Hören usw.) und glaubt, dass es die Wirklichkeit so sieht, 'wie sie ist'. Das ist kein wirklicher Weg. Jeder meiner Lehrer sprach von diesem Irrtum und meine Erfahrung bestätigt dies ebenfalls.
Auf jeder Ebene von Taiji gibt es den Widerspruch zwischen Loslassen und die Kontrolle behalten.
Wie denkst du darüber und wie empfiehlst du damit umzugehen?
Im Zentrum von Taiji steht die paradoxe Frage nach der Verbindung von Yin und Yang, z.B. anspannen/entspannen oder Kontrolle/Natürlichkeit. Was wir suchen, ist nicht mehr Yin oder Yang oder eine Mischung, sondern etwas Neues. Man könnte es Yin-Yang nennen als etwas Eigenes. Es scheint eine Mischung von beidem zu sein, aber es ist etwas Anderes, eine dritte Sache, die neu erzeugt wird. Es ist nicht die Frage, ob eins richtig ist und das andere falsch, sondern dass die gleichzeitige Kombination der beiden etwas Subtileres erzeugt. Bei der Erzeugung der Taiji-Kraft (Jin) gibt es zur gleichen Zeit ein Hereinziehen und Aussenden. Das Stadium der Dehnung ist tatsächlich ein neuer Zustand der im Muskel erzeugt wird. Die Dehnung ermöglicht ein Nachgeben und zur gleichen Zeit erzeugt sie eine Kraft; es handelt sich nicht um eine einfache zeitliche oder räumliche Kombination von Anspannung und Entspannung. Das gleiche gilt auch für Loslassen und die Kontrolle bewahren. Das Loslassen, das die Kontrolle stört, ist nicht das Loslassen, das man braucht. Die Kontrolle, die das Loslassen stört, ist nicht die Kontrolle, die man braucht. Man muss das finden, was gleichzeitig eine zunehmende Kontrolle und ein zunehmendes Loslassen ermöglicht.
Warum ist die innere Ausrichtung (alignment) des Körpers so wichtig?
Innere Ausrichtung ist wichtig in dem Moment, in dem die Kräfte durch den Körper fließen. Innere Ausrichtung ist nicht wichtig, solange man nur entspannt. Das Ausrichten schafft zwischen dem Boden und dem Punkt der Anwendung eine Linie der Verbindung, die es den Kräften ermöglicht, durch den Körper zu laufen, ohne Anspannung (Kontraktion), Widerstand oder Schmerz zu erzeugen. Eine gerade und senkrechte Wirbelsäule zum Beispiel erlaubt es, die größten senkrechten Kräfte vom Boden her aufsteigen zu lassen. Gewöhnlich lässt die Flexibilität der Wirbelsäule mit zunehmendem Alter nach und die Kurven in der Säule verstärken sich, was zu Problemen mit den Bandscheiben führt. Loslassen und inneres Ausrichten in der Form sowie zusätzliche Übungen können diesen Prozess umkehren.
Worin liegt die Bedeutung einer gut entwickelten Basis?
Die inneren Kräfte des Taiji wirken auf- bzw. abwärts im Verhältnis zum Boden. Ohne eine gute Basis kann man diese Kräfte nicht finden und wird niemals aufhören, rohe Kraft und das Gewicht des Oberkörpers einzusetzen, was beim Hervorbringen der Kraft (pushen) durch Lehnen und übermäßige Bewegung angezeigt wird. Nur wenn der Körper extrem stabil ist, kann man - während man mitten in der Aktion ist - den Geist tief konzentrieren.
Warum ist es für den Körper wichtig, locker zu sein?
Neugeborene sind bereits locker, aber sie wissen noch nicht, wie man sich bewegt. Das Erste, was sie lernen, um zu überleben, ist ein Mindestmaß an Bewegungsvermögen, welches Anspannung beinhaltet. Jedermann lernt dies, aber mancher lernt niemals loszulassen. Folglich bleibt und sammelt sich eine Restanspannung im Körper, so dass der Körper im Alter fest und verspannt wird. Als Gegenmittel muss man erst einmal lernen, diese angewöhnte Restanspannung zu lösen. Und als nächstes jede getätigte Anspannung unmittelbar danach auch wieder vollständig aufzulösen. Denn Restspannungen blockieren einerseits die Blut- und Energiezirkulation und beeinträchtigen anderseits die sich anschließenden Bewegungen. Sobald die Kräfte vom Boden durch den Körper fließen, ist es unabdingbar notwendig, die vorherigen Anspannungen vollständig zu lösen, um das halb-automatische Dehnen (stretching) und Ent-Dehnen (un-stretching) zuzulassen.
Warum ist Genauigkeit in der Form wichtig?
Der Hauptgrund besteht darin, auf einem Einstiegsniveau die Geist-Körper-Kontrolle (mind-body control) zu trainieren. Dies wird erreicht durch genaues Positionieren des Körpers nach Maßgabe einer klaren Absicht des Geistes, bei der es sich entweder um eine gespeicherte Erinnerung einer Position oder um eine neue Intention in diesem Moment handelt. Bei Anfängern beabsichtigt der Geist etwas zu tun, und der Körper tut etwas anderes. Genauigkeit stellt den ersten Schritt sowohl in der Geist-Körper-Kontrolle dar als auch den ersten Schritt, um die Haltungen zu finden, die eine bessere Durchleitung der Kräfte vom und zum Boden zulassen.
Warum ist es notwendig den deep mind zu entwickeln?
Der oberflächliche Geist oder die normale tägliche Wahrnehmung ist im Wesentlichen das Bewusstsein des Gehirns. Der wirkliche Geist in all seinen Aspekten existiert im Energiefeld, nicht im Gehirn. Wenn man stirbt, vergeht das oberflächliche Bewusstsein zusammen mit dem Gehirn, aber die tieferen Aspekte des Geistes bestehen weiter und funktionieren auf drei unterschiedlichen Ebenen. Es gibt den Geist, der mit dem Körper verbunden ist, den Geist, der mit dem Energiefeld verbunden ist und es gibt die Intelligenz des Geistes. Die Intelligenz des deep mind wirkt durch diese drei Aspekte. Sie verbindet sich durch diese drei Aspekte mit Körper und Gehirn, aber sie ist deutlich zu unterscheiden vom Gehirn. Der deep mind, welcher die tieferen Aspekte des Energiefelds einschließt, ist das wahre individuelle Selbst, welches in einen Körper geboren ist, um sein Energiefeld und die damit verknüpften Intelligenzen fortzuentwickeln. Das ist der Sinn des Lebens. Wenn man sich daran nicht erinnert, vergeudet man seine Lebenszeit.
Also würdest du sagen, dass dies ist der Hauptgrund für das Taiji-Training ist?
Die Klassiker sagen, dass der Hauptgrund des Taiji-Trainings darin besteht, Langlebigkeit zu erreichen, was in der daoistischen Lehre gleichbedeutend mit Unsterblichkeit ist oder der Fähigkeit nach dem Tod in einem Diamantkörper zu überleben. Die Buddhisten sprechen von Erleuchtung und meinen damit die Erzeugung eines Körpers aus Licht für den gleichen Zweck. Nach dem Tod lebt man so oder so in seinem Energiekörper weiter. Wenn der Energiekörper durch die richtigen Bemühungen zur Lebenszeit gestärkt und verfeinert wurde, dann werden die tieferen Aspekte des Selbst unabhängig vom Körper und somit in einem kristallisierten Energiekörper immun gegen den Tod. Wenn man dies nicht erreicht hat, dann wird jegliche individuelle Existenz allmählich von einem vergehen oder man kehrt wieder in einen Körper zurück, um erneut zu versuchen, dem Kreislauf von Leben und Tod zu entkommen. Das ist die Wahrheit des Lebens. Sie wird von allen echten Lehrern gleichermaßen verstanden. Andere Gründe für Taiji sind schlichterer Natur, die von Menschen im alltäglichen Leben erfunden wurden, gewöhnlich um den Körper zu pflegen und sein Wohlgefühl zu steigern oder um kämpferische Überlegenheit und die damit verbundene zweifelhafte Anerkennung zu erreichen. Unglücklicherweise kann gerade diese Konzentration auf Gesundheit oder Selbstverteidigung sowohl die Verhaftung des Geistes mit dem Körper als auch das Ego stärken und somit die innere Weiterentwicklung blockieren.
Wie können diejenigen, die an deinen Konzepten interessiert sind, in Kontakt mit deinem Unterricht kommen?
Ich betreibe kein breit angelegtes Marketing, aber es sind genug Informationsquellen verfügbar, wie dieses Interview, meine Bücher und meine unterrichtenden Schüler. Wenn jemand wirklich interessiert ist, wenn er sich die Mühe macht, sich umzusehen, und wenn es eine innere Resonanz mit der Lehre gibt, dann wird ohne Zweifel sein deep mind eine Gelegenheit für einen Kontakt arrangieren.
Das Interview wurde geführt von Jean Haines (GB), Michael Plötz (D) und Michael Jagdt (D)
(Deutsche Fassung von Michael Jagdt / Michael Plötz)
Eine gute Einstellung zum Taiji-Lernen entwickeln
von Wee Kee-Jin
übersetzt von Christine Schneider
Meister Huang Sheng-Shyan meinte einmal, eine Schülerin sollte bereit sein, bis über die Berge nach einer guten Lehrerin Ausschau zu halten, und eine Lehrerin sollte willens sein, für eine gute Schülerin die Ozeane zu überqueren. Beide Anstrengungen zeigen eine gute Einstellung.
Deine Schale leeren
Die erste Bedingung, um etwas Neues lernen zu können, besteht darin, das loszulassen, was man bereits kann. Nur wenn Deine Schale leer ist, gibt es einen leeren Raum, um Neues einfüllen zu können. Nimm den Zweck und die Funktion der neuen Lektionen erst voll auf, bevor Du dann den Bezug auf die Taiji-Klassiker herstellst. Wenn sie Deinem Verständnis der Prinzipien entsprechen, integriere sie in Deine laufende Übungspraxis, ansonsten lasse sie bleiben. Dann widersprechen sie vielleicht Deiner momentanen Entwicklungsrichtung oder entfalten ihre Bedeutung erst zu einem späteren Zeitpunkt auf Deiner Taiji-Entdeckungsreise.
Üben
Schülerinnen geben einer Lehrerin selten die Chance zu lehren. Indem sie nicht üben, was bereits unterrichtet wurde, haben sie nicht die Grundlage, um die nächsten Schritte gelehrt zu werden. Nur einen Kurs oder workshop zu besuchen bedeutet noch nicht, dass Du gut im Taiji wirst; Resultate kommen vom Üben.
Akzeptiere die Schlüssel
Wenn Dich jemand unterrichtet, überträgt sie Dir eine Trainingsmethode oder bietet Dir einen Schlüssel zum Tor an. Um das Tor zu öffnen und den Raum zu betreten, musst Du üben, um eine Basis des Gelehrten zu entwickeln. In der nächsten Phase des Trainings kann Dich die Anleitung der Lehrerin zu einem nächsten Schlüssel führen. Wenn Du hingegen nicht durch das erste Tor gegangen bist, wird Dir dieser neue Schlüssel nicht von Nutzen sein.
Freude am Training
Anfangs ist es erforderlich, eine regelmäßige tägliche Übungsroutine zu etablieren, um Selbstdisziplin zu entwickeln. Bald solltest Du aber Freude an Deinem Üben finden und daher den Wunsch zu trainieren entwickeln, ansonsten baust Du einen mentalen Widerstand auf, der es verhindern wird, dass subtilere Tiefen des Taiji sichtbar werden.
Werde Deine eigene Lehrerin
Die Taiji-Entdeckungsreise beginnt mit einer Lehrerin, die Du benötigst, um die Basis zu bauen, oder wie es in den Klassikern heißt: „Um durch das Tor zu kommen, brauchst Du die mündliche Überlieferung“. Aber wenn einmal die Grundlage solide und eine klare Richtung eingeschlagen ist, kannst Du weitere Fortschritte auch ohne Deine Lehrerin machen. Denn wenn ein bestimmtes Niveau erreicht ist, wird sich eine neue Dimension des Verstehens entfalten und ein Prozess der Erforschung und Entdeckung beginnt, der ein Leben lang fortgesetzt werden kann.
Bleibe immer Schülerin
Lehrerin zu sein bedeutet nicht, dass Du aufgehört hast, zu üben. "Lehrerin" ist nur eine Form der Anrede, wir sind alle Schülerinnen, ständig lernend und übend.